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Publikationsorgan des Monats: November '25

Außenpolitik im Dialogformat

Publikationsorgan des Monats: „Bergedorfer Gesprächskreis zu Fragen der freien industriellen Gesellschaft“ (1962-1994)

Ein „Trainingslager” für alle, die über ihren eigenen Tellerrand hinausschauen wollen (Richard von Weizsäcker)? Eine „Sehschule der deutschen Außenpolitik” (Frank-Walter Steinmeier)? Ein „politisches Frühwarnsystem“ gar (Hamburger Abendblatt)? Das Lob für den Bergedorfer Gesprächskreis, der bis heute existiert, war schon immer groß. Aber was war (und ist) das für ein Forum, das 1961 vom Großunternehmer und Stiftungsmäzen Kurt A. Körber im beschaulichen Hamburger Stadtteil Bergedorf begründet wurde und in mittlerweile mehr als sechzig Jahren über 2000 Politiker, Wissenschaftler, Journalisten, Ökonomen und Militärs in Tagungsorten auf der ganzen Welt zusammengebracht hat? Mit den zwischen 1962 und 1994 im Zeitschriftenformat publizierten Gesprächskreis-Protokollen, die in der Arbeitsstelle für Geschichte der Publizistik vorliegen, lässt sich dieser Frage nachspüren.

Aktualität, Dialogbereitschaft, Informalität – diese drei Grundeigenschaften sollte der Bergedorfer Gesprächskreis von Beginn an programmatisch verkörpern. Kurt A. Körber, der mit dem Maschinenbau für die Tabakindustrie im Deutschland der Nachkriegszeit ein Vermögen machte und mit der 1959 gegründeten Körber-Stiftung zu einem der größten Kultur- und Wissenschaftsförderer der Bundesrepublik aufstieg, sah den Gesprächskreis als seine wichtigste Erfindung an. „Immer hat sich unser Gesprächskreis Themen zugewandt, die aus der Geschichte in die Zukunft reichen und ihre Gestalt bestimmen“, resümierte der Stifter noch im Rückblick 1990 dessen Aktualitätsbezug. 

In der Tat war der Gesprächskreis immer nah dran am Puls der Zeit und schreckte nicht zurück vor den großen Fragen der Weltpolitik. Kaum war 1979 in Teheran der Schah gestürzt worden, lotete er bereits das Verhältnis Westeuropas zum Nahen Osten neu aus. Der Fall der Mauer im November 1989 war gerade einmal wenige Monate her, da fragte er bereits: „Wie geht es weiter mit den Deutschen in Europa?“. Seit Mitte der 2010er Jahre rückten merklich der Aufstieg Chinas, die Gefahren einer „post-atlantischen Welt“ und allen voran die sicherheitspolitischen Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine in den Fokus. Auch Fragen, die uns heute erneut vertraut erscheinen, wurden Gegenstand der Diskussion: „Findet Europa wieder die Kraft, eine Rolle in der Weltpolitik zu spielen?“ (Nr. 79), „Die ökologische Wende – hat sie noch Chancen?“ (Nr. 85), „Wege zur inneren Einheit – was trennt die Deutschen nach Überwindung der Mauer?“ (Nr. 94). Die Durchsicht des Gesprächskreises zeigt: Manch innen- und außenpolitische Grundsatzfrage, die uns derzeit umtreibt, besitzt eine schwelende longue durée, auf die wir immer noch keine zufriedenstellende Antwort gefunden haben.

Der zweite Wesenskern des Gesprächskreises – der Dialog – galt nicht nur für Fach- und Ressortgrenzen, sondern dezidiert auch für nationale. Getreu dem Motto „Miteinander sprechen ist besser, als nur übereinander zu sprechen“ (Steinmeier, Rede zum 60. Jubiläum 2021) kapselte sich der Kreis nicht ein. Internationale Gäste waren ebenso wenig eine Seltenheit wie Tagungsorte außerhalb Deutschlands oder Europas. Deren Wahl folgte konsequent den weltpolitischen Brennpunkten: Seit 1975 tagte man mehrfach in Moskau, um die Chancen von Entspannungspolitik auszuhandeln, in den 1990er Jahren auffallend häufig in den neuen unabhängigen Ländern in Osteuropa, um deren europäische Integration es ging, schließlich auch in Jerusalem (1996), Istanbul (1997), Peking (2000) oder Beirut (2009). Auch ein Gesprächskreis im Vatikan (1984), samt Audienz bei Papst Johannes Paul II., durfte nicht fehlen.

Der Dialog entfaltete sich dabei in einem Zwischenbereich von Privatem und Öffentlichem. Für Richard von Weizsäcker, langjähriger Vorsitzender des Forums, hob sich die in ihm praktizierte Diskussion von der „relativen Unverbindlichkeit rein privater Gespräche“ ebenso ab wie „vom Scheinwerferlicht der unmittelbar öffentlichen Gespräche“. Unter dem Eindruck der Annexion der Krim durch Russland 2014 wies der zeitmalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier dem Kreis die Schaffung „geschützte[r] Räume“ zu – „Räume, wo ‚out of the box‘ gedacht und gesprochen werden darf, wo Ideen getestet werden können, ohne mediale Empörung in den Zeitungen am nächsten Vormittag.“ Hatte die informelle Ausrichtung des Kreises in den 1970 und 80er Jahren noch offene Gespräche zwischen Russland und westeuropäischen Politstrategen ermöglicht, war damit seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine 2022 logischerweise Schluss. Seitdem müht sich der Kreis an der russischen Außenpolitik ab, ohne dass russische Vertreter mit am Tisch säßen. Dafür aber sind Teilnehmende aus den osteuropäischen Bündnisstaaten der NATO und der EU so stark vertreten wie selten zuvor. Russland bleibt also das zentrale Dauerthema des Kreises – der internationale Dialog findet nunmehr aber über Russland und nicht mit ihm statt. 

Was bedeuten diese praktischen Grundzüge der Aktualität, Dialogbereitschaft und Informalität für Form und Gestaltung der publizierten Bergedorfer Gesprächskreise? Eine (außen)politische Fachzeitschrift im üblichen Sinne sind sie sicherlich nicht. Vielmehr stellen sie eine Diskussion im Vollzug dar, deren Entwicklungen, Verästelungen und Kontroversen auf Druckerpapier gebannt sind. Sie geben keine abschließenden Antworten auf drängende Fragen – sondern bilden die gemeinschaftliche intellektuelle Suche nach diesen Antworten ab. Die Krisen und Umbrüche der vergangenen Jahrzehnte spiegeln sich in ihnen nicht im selbstbewussten Jargon von Leitartikeln, sondern multiperspektivisch und konfliktbehaftet. Jenseits der politischen Themen bieten die Protokolle des Gesprächskreises damit einen historischen Einblick in Debattenkulturen im Wandel. In ihnen werden Regime, Infragestellungen und Modifizierungen in den zeitgenössischen Meta-Einstellungen der Diskussionsaustragung sichtbar, die sonst verborgen bleiben. 

Offensichtlich wird das etwa im Bereich Gender. Lesen sich die frühen Protokolle wie vertrauliche Alt-Herren-Gespräche in zigarettenrauchschweren Räumen, veränderte der vermehrte Einbezug von Frauen in die Gesprächskreise ab den 1980er Jahren den Diskussionsstil und die Umgangsformen merklich. Und auch postkoloniale Spuren konnten in den Gesprächskreisen selbst schon mal explizites Thema werden, wie die Auseinandersetzung um die Frage nach muslimischer Identität in der Ausgabe von 1980 zur „islamischen Revolution“ belegt. Edward Saids bahnbrechendes Werk zum Orientalismus war kaum zwei Jahre alt, da konnte Detlev Khalid, Forscher am Orient-Institut in Hamburg, dem versammelten Kreis vorhalten: „Ich fühle mich als Muslim in dieser Runde wieder einmal kolonisiert, und zwar auf die übelste Art.“ Dass die Diskussion nach diesem Vorwurf weiterging, selbstredend sachlich und respektvoll, stand für die Beteiligten jedoch außer Frage. 

Der Bergedorfer Gesprächskreis liegt mit wenigen Lücken von 1972 bis 1993 (Nr. 41-100) im Originaldruck in der Arbeitsstelle für Geschichte der Publizistik zur Einsicht bereit. Als historischer Quellenkorpus eignet er sich für ganz unterschiedliche Fragestellungen – von der informellen Verständigungspolitik zwischen Russland und Westeuropa während des Kalten Krieges bis hin zur europäischen Integration eines einheitlichen Deutschlands um 1990. Nicht zuletzt Fragen zum Wandel außen- und sicherheitspolitischer Debattenkulturen lassen sich anhand des Gesprächskreises analysieren. Insgesamt gibt er einen seltenen publizistischen Einblick in die vergangenen Bemühungen zur dialogischen Krisenlösung an der Schnittstelle von Diplomatie, Politik und Öffentlichkeit. 

Diese Ausgabe des Publikationsorgans steht hier zum Download (als PDF) zur Verfügung.

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