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Publikationsorgan des Monats: April '23

Information und Sensation: Deutschlands erste Boulevardzeitung

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Erstausgabe vom 22. Oktober 1904.
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Ausgabe vom 31. Januar 1933.

„Berliner Zeitung am Mittag“ (1904-1943)

„Bezett am Mittag“ – als jener Ruf am 22. Oktober 1904 das erste Mal auf den Straßen Berlins von den Zeitungsjungen erklang, die ein neues Blatt des Ullstein-Verlages anpriesen, war dies der Beginn eines beispiellosen Aufstiegs eines neuen Zeitungstypus gleich in mehrerlei Hinsicht: Mit der „Berliner Zeitung am Mittag“ als erster deutscher Boulevardzeitung und zugleich erstem Mittagsblatt etablierte sich ein in Form und Ausgestaltung höchst innovatives Printmedium in der Presselandschaft des Kaiserreiches, welches künftig für fünf Pfennige von montags bis samstags im Straßenverkauf erworben werden konnte. Ursprünglich als ergänzende Mittagsausgabe der „Berliner Zeitung“ geplant, die seit 1877 im Hause Ullstein vertrieben wurde, erzielte die „B.Z. am Mittag“ schon in ihrer Anfangsphase einen solch durchschlagenden Erfolg, dass das ‚Mutterblatt‘ bereits 1905 eingestellt wurde. Anfänglich aus Unternehmergeist und Effizienzüberlegungen ins Leben gerufen, um die publizistische Marktlücke der Mittagsstunden zu bedienen, in denen die Druckerpressen des Ullstein-Verlags in der Berliner Kochstraße stillstanden, gelang der neuen Mittagsausgabe eine einzigartige Erfolgsgeschichte: Mit rund 13.600 verkauften Exemplaren bereits im ersten Erscheinungsjahr und Höchstzahlen von über 200.000 abgesetzten Ausgaben in ihrer Hochphase Ende der 1920er-Jahre kann die „B.Z. am Mittag“ mit Fug und Recht als Deutschlands erfolgreichstes Boulevardblatt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden.

Das „Blatt mit der Leidenschaft für Rekorde“ (Erich Wagner) verstand es wie kaum eine andere zeitgenössische Zeitung, Information und Unterhaltung zu vermitteln: Nicht konventionell eng und klein gedruckt, sondern mit freien Flächen, großen Überschriften und kurzen, prägnanten Artikeln bot die „B.Z. am Mittag“ tagesaktuelle Neuigkeiten zumeist noch vor der Konkurrenz, informierte über die jüngsten lokalen Ereignisse genauso wie über internationale Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Prominenz, berichtete über Sport, Kunst und Kultur, lieferte eigene Reportagen, bewarb Veranstaltungen, verfolgte Verbrechen und Prozesse und deckte Skandale aller Art auf. Die aufsehenerregenden Äußerungen Kaiser Wilhelms II. gegenüber dem „Daily Telegraph“ erfuhren die „B.Z.“-Leser in beispielloser Schnelligkeit noch am selben Tag aus der Zeitung, ebenso wie die Ermordung des Außenministers Walther Rathenau 1922 oder die nationalsozialistischen Geheimpläne zur Gründung eines paramilitärischen Fliegerkorps im Dezember 1931.

Die „B.Z. am Mittag“ verstand sich als eine wertfreie, gleichermaßen kosmopolitisch angehauchte wie heimatverbundene Zeitung für die Bürger der Weltstadt Berlin, deren selbstgestecktes Ziel, die schnellste Zeitung der Welt zu sein, sich von der Konzeption bis hin zur Distribution auf sämtlichen Ebenen niederschlug. Um größtmögliche Aktualität und konkurrenzlose Exklusivmeldungen gewährleisten zu können, verfügte der Verlag über ein eigenes Netzwerk an Korrespondenten im In- und Ausland und machte von der modernen Nachrichtenübermittlung via Telefon Gebrauch. Die Verbreitung der Zeitung verlief geradezu spektakulär: Um kurz nach 12:00 Uhr verließen die druckfrischen Ausgaben den Verlag und wurden mittels Automobilen, Fahrrädern und Droschken an Tausende Verkaufsstellen in und um Berlin gebracht. Neben einem Bäderdienst, der den mittäglichen Berliner Sommerfrischlern die „B.Z.“ mit Motorbooten an die umliegenden Seen lieferte, transportierten Züge und Flugstaffeln die Postausgabe in entlegenere Regionen Deutschlands und das europäische Ausland.

Anstelle einer festen Abonnementbindung waren es die spritzigen, aber selten ins Schrille abgleitenden Schlagzeilen und die leichte Lesbarkeit des Blattes, die zur Freizeit-Lektüre anregten und besonders Berufstätige in ihrer Mittagspause ansprechen sollten. Dabei war jede Ausgabe in sich geschlossen, denn an die um 1900 noch durchaus verbreitete ausgabenübergreifende Berichterstattung war angesichts der ständig alternierenden Leserschaft nicht zu denken. Anstelle des üblichen Fortsetzungsromans setzte der Unterhaltungsteil mit der sog. Novelette insofern auf das neuartige Format der Kurzgeschichte.

In Zeiten einer bis dahin ungekannten massenkulturellen Popularisierung von Sport wuchs der Sportteil, der zunächst lediglich einen kleinen Teil des Gesamtvolumens der Zeitung eingenommen hatte, in den Weimarer Jahren stetig an. Schon bald reflektierte die „B.Z. am Mittag“ die gesellschaftliche, ganz der technisierten Moderne verpflichteten Begeisterung für Automobilismus und Motorsport. Später trat die „B.Z.“ selbst als Förderin und Veranstalterin von spektakulären Sportevents und Wettbewerben auf – beispielhaft sei an dieser Stelle der „B.Z.-Preis der Lüfte“, ein deutschlandweiter Rundflugwettbewerb, genannt – und stiftete großzügige Preise. Im Verbund mit ausgeklügelten Werbekampagnen generierte der Ullstein-Verlag damit seiner „B.Z. am Mittag“ marketingsicher ihre eigenen exklusiven Sensationen.

Mit dem bewusst neutral gehaltenen Duktus in der Berichterstattung, der auf jegliche Anbindung an politische Strömungen verzichtete, war es mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 schlagartig vorbei. Zwar verzichtete das NS-Regime aufgrund des Erfolgs der „B.Z. am Mittag“ auf eine grundlegende Konzeptveränderung des unterhaltenden Blattes, doch färbten sich deren Artikel mit der Eingliederung in das nationalsozialistische Pressewesen weltanschaulich ein. Nicht zuletzt seine thematische Ausrichtung auf die Weimarer Massenkultur des Sports erwies sich als besonders anschlussfähig für den kriegerischen Männlichkeitskult und die rassenhygienischen Diskurse der nationalsozialistischen Propaganda.

In der Arbeitsstelle für Geschichte der Publizistik ist die „B.Z. am Mittag“ beinahe lückenlos für den gesamten Erscheinungszeitraum bis 1943, als sie aufgrund von Papiermangel während des Zweiten Weltkriegs eingestellt werden musste, auf Mikrofilm vorhanden. Wie kaum eine andere Zeitung steht sie für den Durchbruch des Zeitungslesens zum gesellschaftlichen Massenphänomen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. An ihr lassen sich exemplarisch das Zusammenspiel von sich verändernden Lesebedürfnissen, neuen Marktlogiken und medialer Nachrichtenverdichtung untersuchen – ein Nexus, der mit seiner gleichzeitigen Omnipräsenz von Neuigkeiten und der Rationalisierung von (Frei-)Zeit auch auf die Genese unserer heutigen sozio-medialen Strukturen verweist. Mit Blick auf das Kaiserreich stellt die „B.Z. am Mittag“ einen ertragreichen Quellenkorpus dar, wenn es um Fragen zur Rolle der Öffentlichkeit oder der medialen Skandalisierung von Politik geht. Für die kulturelle Produktivität, Pluralisierung und Popularisierung der aufblühenden demokratischen Massenkultur der Weimarer Republik bietet die Zeitung Anknüpfungspunkte für die Analyse von Körper- und Geschlechterdiskursen, der Rezeption künstlerischer Avantgarde oder des wachsenden Selbstbewusstseins Berlins als Weltmetropole. Insgesamt zeigt die „B.Z. am Mittag“, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – und im Gegensatz zu vielen späteren Boulevardzeitungen – zwischen Information und Sensation, zwischen journalistischer Seriosität und leichter Unterhaltung kein automatischer Widerspruch bestehen musste.

Diese Ausgabe des Publikationsorgans steht hier zum Download (als PDF-Dokument) bereit.

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