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Publikationsorgan des Monats: Januar '23

Ein Agitator – tausende Agitatoren

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Titelseite der Erstausgabe des Agitator (1. April 1870)

„Der Agitator“ (1870-1871)

„Tausende von Agitatoren sollen fortan jeden Freitag Abend in alle deutschen Gaue hinausziehen, die große Lehre der Neuzeit zu verkünden.“ Schon der Aufmacher zur ersten Ausgabe am 1. April 1870 zeigte Selbstverständnis und Programmatik dieses Publikationsorgans an. „Tausende von Agitatoren“ – das waren zum einen die Zeitungsexemplare, die dem Anspruch nach in tausendfacher Auflage als Medium sozialdemokratischer Interpretationsangebote fungieren sollten. „Tausende von Agitatoren“ – das waren zum anderen die Leser der Zeitung, die durch die Lektüre selbst zu Agitatoren des proletarischen Klassenbewusstseins werden sollten.

Der „Agitator“ war ein offizielles Blatt des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV), der sich im Mai 1863 auf Initiative Ferdinand Lassalles als erste gesamtdeutsche Arbeiterpartei instituiert hatte. Zentralistisch auf einen Präsidenten mit umfassenden Vollmachten zugeschnitten, fußte die Programmatik des ADAV wesentlich auf einer Schrift Lassalles, die die Arbeiterschaft dazu aufrief, nach politischer Partizipation und parlamentarischer Mitbestimmung zu streben, um das von ihm diagnostizierte, als ausbeuterisch wahrgenommene Wirtschaftssystem des „ehernen Lohngesetzes“ zu überwinden. Nach dem überraschenden Tod des Wortführers bei einem Duell stürzte die Partei in eine Krise. Zwar gelang es dem Publizisten und Politiker Johann Baptist von Schweitzer, der 1867 zum neuen Präsidenten des ADAV gewählt wurde, diesen in ruhigere Fahrwasser zu manövrieren. Mit dem „Social-Democrat“ hatte Schweitzer bereits 1865 das erste offizielle Publikationsorgan des ADAV begründet – finanziert und redigiert von ihm persönlich. Doch die Bemühungen, seine autokratische Vormachtstellung als Vereinspräsident zu konsolidieren, sowie das Ringen um das intellektuelle Erbe Lassalles erzeugten neue Unabhängigkeitsbestrebungen und Abspaltungstendenzen innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung. Der Kampf um die ideologische Deutungshoheit spitzte sich in der Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) durch August Bebel und Wilhelm Liebknecht im Jahr 1869 zu. Um solche Fliehkräfte zu unterminieren, beschloss Schweitzer 1870 die Gründung eines zweiten offiziellen Parteiorgans mit dem Hauptziel der politischen Agitation. Der „Agitator“ war geboren.

Als „die schlimmsten Feinde der Arbeitersache“ wurden die führenden Köpfe der SDAP bereits in der Erstausgabe von Schweitzer persönlich verunglimpft, der nicht nur die meisten Artikel selbst verfasste, sondern den „Agitator“ auch aus seinem Privatvermögen finanzierte. Nicht zuletzt der erschwingliche Preis von etwa 2 Silbergroschen pro Vierteljahr sollte die Auflage gerade auch in den Gebieten, in welchen die SDAP regen Zulauf fand, in die Höhe treiben. Damit wollte das Blatt vor allem jene Arbeiter überzeugen und mobilisieren, die nicht oder nicht mehr Mitglied des ADAV waren – trat also als „Agitator“ im Wortsinne auf.

Verstand Schweitzer die Gesamtheit der erschienenen Ausgaben des „Agitator“ als ein „gutes social-politisches Buch […], welches besonders in keiner Vereinsbibliothek fehlen sollte“, folgte der Aufbau des Blattes einem wiederkehrenden Muster: Jede Ausgabe enthielt einen Leitartikel, der sich auf theoretischer Ebene spezifischer Aspekte der Arbeiterfrage annahm und diese in lassalleanischer Tradition deutete. Anschließend warf der „Agitator“ in den Rubriken „Wochenschau“ und „Vermischtes“ einen Blick auf das Weltgeschehen; er berichtete meinungsstark über politische Entwicklungen oder amüsante Begebenheiten. Zu guter Letzt warb die Zeitung für ein Abonnement des Schwesterblattes „Social-Democrat“, das als kostspieligeres Hauptorgan des ADAV dreimal wöchentlich erschien. Nach erfolgreicher „Agitation“ markierte ein Abonnement des „Social-Demokrat“, der auch als publizistisches Forum des Vereins fungierte, den intellektuellen Eintritt in eine feste Mitgliedschaft.

Die kurze Lebenszeit des Publikationsorgans fiel mit dem Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges und der Reichsgründung 1870/71 zusammen. Dem Krieg gegen Frankreich stand der ADAV zunächst positiv gegenüber, war er doch grundsätzlich preußisch-„kleindeutsch“ eingestellt und verfolgte antibonapartistische Motive. Unmissverständlich appellierte der „Agitator“ bei Kriegsbeginn an seine Leserschaft: „Nachdem der Krieg thatsächlich ausgebrochen, kommt es weniger darauf an, noch zu untersuchen, wer eigentlich die Schuld an demselben hat, sondern vielmehr darauf, alle Kräfte einzusetzen, daß Deutschland aus dem Kriege siegreich hervorgehe.“ Als der französische Kaiser gefangen genommen worden war, forderte der „Agitator“ jedoch rasch ein Ende des Krieges und schlug sich auf die Seite der Pariser Kommune. Von dem revolutionären Stadtrat, den sozialistische Kommunarden im März 1871 in Paris gebildet hatten, erhoffte man sich eine Signalwirkung für eine proletarische Revolution in Deutschland. Zur auf liberaler Seite umjubelten deutschen Reichsgründung „von oben“ unter preußischer Hegemonie verlor der „Agitator“ kaum ein Wort – aus Solidarität mit der Pariser Kommune, aus Protest gegen eine deutsche Nationalstaatsbildung ohne Beteiligung der Massen sowie aus Unzufriedenheit über die weiterhin bestehenden sozialen Ungleichheiten im neuen Kaiserreich.

Der absichtlich niedrig gehaltene, laut Präsident Schweitzer „unerhört billige Preis“ des Blattes hätte eigentlich eine sehr hohe Auflage erfordert. Im April 1870 verkündete man zwar noch stolz das Erreichen von 10.500 Abonnenten, doch entwickelte sich das Blatt zusehends zum finanziellen Verlustgeschäft. Verschärft wurde die prekäre Finanzlage durch den Krieg 1870/71, der die Einberufung vieler proletarischer Leser nach sich zog. Als Schweitzer die Finanzierung des „Social-Demokraten“ nicht mehr stemmen konnte, avancierte der „Agitator“ zwischen Mai und Juni 1871 notgedrungen zum einzigen offiziellen Parteiorgan des ADAV. Die Tage Schweitzers als Präsident des ADAV waren jedoch ohnehin gezählt: Nach der vernichtenden Niederlage bei den Reichstagswahlen 1871, bei der der ADAV – im Gegensatz zur SDAP – gänzlich leer ausging und Schweitzer sein Reichstagsmandat aus dem Norddeutschen Bund verlor, trat er zurück und stellte die Finanzierung der Parteipresse ein. Damit fand auch der „Agitator“ am 24. Juni 1871 nach nur 62 Ausgaben ein jähes Ende. Ab dem 1. Juli wurde mit dem „Neuen Social-Democrat“ erstmals ein aus Mitteln der Parteikasse finanziertes Organ veröffentlicht, welches später im „Vorwärts“ der SPD aufgehen sollte.

Der „Agitator“ erzählt die Geschichte einer Arbeiterbewegung im Umbruch. Er gibt Auskunft über die Agitationsformen der frühen sozialdemokratischen Bewegung im Spannungsfeld von Nationalismus und Emanzipationshoffnungen, Staatenkrieg und internationaler Arbeiterschaft sowie sozialer Frage und Reichsgründung. Zugleich dient der „Agitator“ als Perspektiv für die Erforschung innerparteilicher Macht- und Grabenkämpfe, des ideologischen Wettstreits innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung und der publizistischen Propaganda des Präsidenten Johann Baptist von Schweitzer. Der „Agitator“ liegt vollständig gebunden in der Arbeitsstelle für Geschichte der Publizistik zur Einsichtnahme bereit.

Diese Ausgabe des Publikationsorgans steht hier zum Download (als PDF-Dokument) bereit.

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