Ein „Symbol der Völker-Versöhnung durch den Sport“?
„Der Kicker“ (1920-)
Am 23. November 1899 betritt die englische Fußball-Nationalmannschaft einen kleinen Sportplatz in der Nähe des Berliner Kurfürstendamm. Es ist das erste Auswärtsspiel der Engländer auf dem Kontinent – und für den Gegner, bestehend aus einer Auswahl von Fußballspielern aus Berlin und Süddeutschland, ist es sogar das erste Länderspiel überhaupt. Den unerfahrenen deutschen Fußballern, denen die Briten in allen Belangen überlegen sind, wird das Spiel zum Lehrstück. Ein Journalist schwärmt später davon, dass die englischen Stürmer nur „höchst selten mit der Fußspitze, sondern fast immer mit der Innen- oder Außenseite des Fußes“ agiert hätten. Das Spiel, das etwa 1.500 Zuschauer anlockt, endet mit 13:2.
Walther Bensemann, ein 26-jähriger Student, war der Organisator dieser als „Ur-Länderspiel“ in die deutsche Sportgeschichte eingegangenen Partie. Im Jahr 1873 als Sohn einer jüdischen Familie in Berlin geboren, besuchte Bensemann eine englische Schule in Montreux und entwickelte dort, inspiriert durch britische Mitschüler, eine Leidenschaft für den in Deutschland noch unbekannten Fußballsport. In beinahe missionarischer Absicht begann er noch in seiner Jugendzeit als Gründer von Vereinen durch den deutschen Süden zu ziehen. So rief er im Jahr 1889 mit dem International Football Club nicht nur den ersten süddeutschen Fußballklub ins Leben, sondern partizipierte auch an der Instituierung der Vorgängervereine des FC Bayern München oder von Eintracht Frankfurt.
In der von Nationalismus, Militarismus und zunehmendem Antisemitismus geprägten Zeit um die Jahrhundertwende interpretierte Bensemann den Fußball als pazifistisches, internationales Projekt. „Jeder Mann von Gefühl und Verstand sollte sich freuen“, schrieb er, „wenn Franzosen und Deutsche sich zum ersten Mal auf friedlichem Boden träfen und den alten Nationalhass vergessen würden“. Erschüttert von den Erfahrungen des Weltkriegs intensivierte Bensemann zur Zeit der Weimarer Republik seine Bemühungen, durch den Sport, dem für ihn „einzig wahren Verbindungsmittel der Völker und Klassen“, einen Weg zur internationalen Verständigung aufzuzeigen. Zu diesem Zweck gründete er eine Zeitschrift, die das Sprachrohr seiner „pazifistischen Sportidee“ werden sollte: Am 14. Juli 1920 erschien in Konstanz die erste Ausgabe des Kicker – als „Symbol der Völker-Versöhnung durch den Sport“, wie Bensemann dessen Programmatik auf den Punkt brachte. Unter dem Titel „illustrierte Fussball-Wochenschrift für Deutschland und die Schweiz“ firmierend, bestand der Kicker in seiner Anfangszeit als Ein-Mann-Betrieb. Bensemann bekleidete alle Positionen in Personalunion und stellte erst nach und nach eine Redaktion zusammen. Dennoch gelang es ihm, durch sein in nunmehr drei Jahrzehnten aufgebautes internationales Netzwerk und dank seines Rufs als süddeutscher Fußballpionier, die finanziell klamme und chaotisch organisierte Zeitschrift zügig auf dem kulturpublizistischen Parkett der Weimarer Republik zu etablieren. Seit dem Jahr 1924 fungierte der Kicker als Zentralorgan des Süddeutschen Fußball-Verbands, nur drei Jahre später erreichte er bereits eine Auflage von über 20.000 Exemplaren. Der damalige FIFA-Präsident Jules Rimet feierte den Kicker 1932 sogar als „bestes Sportmagazin Europas“.
Neben Berichten über regionale Fußballereignisse, ausführlichen Korrespondentenbeiträgen aus aller Welt und großformatigen Fotografien, bildeten die vom Chefredakteur verfassten „Glossen“ das Herzstück jeder Kicker-Ausgabe. In diesen polymorph ausgestalteten Schriften blieb Bensemann seiner pazifistischen und kosmopolitischen Geisteshaltung treu. Dabei richtete sich das Magazin seinem Wesen nach an Fußballfans, erreichte aber vor allem sozialdemokratische und liberale Zielgruppen. Denn Bensemann bespielte in seinen „Glossen“ unterschiedliche thematische Felder, argumentierte mal humorvoll und kurzweilig, mal bissig und scharfzüngig – und verwickelte das Magazin dadurch auch immer wieder in publizistische Fehden mit konservativen und nationalistischen Akteuren.
Insbesondere die überwiegend deutsch-nationalistisch eingestellten DFB-Funktionäre wurden regelmäßig Opfer seiner Attacken. Dies zeigt eine Debatte um das Amateurwesen im deutschen Fußball, welche die Sportpolitik der 1920er und -30er Jahre massiv prägte. Als sich der DFB zum Schutze eines „deutschen Amateurideals“ weigerte, professionelle (bezahlte) Fußballspieler zuzulassen, und den deutschen Vereinen infolgedessen durch die „Hannoveraner Beschlüsse“ von 1925 untersagte, gegen ausländische Profiteams zu spielen, griff der Publizist die DFB-Führung immer wieder in scharfem Ton an – stand eine solche Haltung schließlich der von Bensemann propagierten internationalen Mission des Fußballs diametral gegenüber. Einen Antagonisten fand er auch in der Zeitschrift Fußball und Leichtathletik (FuL), dem Publikationsorgan des überwiegend nationalistisch ausgerichteten „Westdeutschen Spielerverbands“. Als jenes Blatt im Jahr 1925 drei „T“s (für „Teutsch, Treu, Tüchtig“) als Programmatik der deutschen Sportpolitik ausrief, mit dem Ziel, „in und für Deutschland brauchbare Menschen“ herauszubilden, druckte der Kicker eine ganze Reihe kritischer und ablehnender Gegenstimmen ab – und eröffnete damit mehrere Jahre andauernde Händel zwischen beiden Publikationsorganen. Im Zuge dieses Konflikts wurde Bensemann, dem zeitgenössischen Duktus entsprechend, auch Opfer antisemitischer und rassifizierender Anfeindungen.
In seinen „Glossen“ verfolgte der Chefredakteur des Kicker eine Agenda von Toleranz, Gleichheit und Pragmatismus sowie eine Überwindung des ubiquitär grassierenden Nationalismus durch eine Internationalisierung des Sports. Retrospektiv wurden diese Texte als „das Bedeutendste, was je ein deutscher Sportjournalist geschrieben hat“ (Richard Kirn), bezeichnet. Doch die Situation in Deutschland um 1933 kannte keinen Raum für einen jüdischen Publizisten, der offen pazifistische und weltoffene Einstellungen vertrat. Nachdem die Nationalsozialisten im Januar endgültig die Macht übernommen hatten, musste Bensemann den Kicker verlassen. Wenige Tage nach dem Reichstagsbrand floh er in die Schweiz, wo er im Folgejahr verarmt in Montreux starb.
Während der Messager de Montreux in der Schweiz noch verkündete, dass „der König des deutschen Fußballs“ gestorben sei, hatte sich der Kicker schon längst mit den neuen Verhältnissen arrangiert. Insbesondere Bensemanns Nachfolger, Hanns-Jakob Müllenbach, brachte das Magazin zügig auf Kurs mit der NS-Regierung und beschimpfte seinen Vorgänger als „Asphaltliteraten“, der „das deutsche Wesen“ verunglimpft habe. In der Diktatur des Nationalsozialismus wurde der Kicker offiziell zum „Amtliche[n] Organ des Reichsfachamtes Fußball im NS-Reichsbund für Leibesübungen“. Damit reihte er sich in die Masse der gleichgeschalteten NS-Propagandamedien ein – auch und vor allem in seinen Ausführungen, die über eine „neutrale“, ereignisorientierte Sportberichterstattung hinausgingen. „Sport dient dem totalen Einsatz“, titelte das Magazin etwa im Februar 1943, und führte aus: „Die Generalmobilmachung der Nation erfolgt nun im vierten Kriegsjahr, nachdem das Zusammenspiel zwischen den jüdisch geführten Mächten der angelsächsischen Demokratien und der Sowjets zur Vernichtung der jahrtausendalten abendländischen Kultur und der neuen staatlichen Ordnung auf dem europäischen Kontinent offensichtlich geworden ist.“
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Blatt zunächst eingestellt und 1951 als Kicker – Die Fußball-Illustrierte neu gegründet. Im Jahr 1968 fusionierte es mit dem bereits seit 1946 durch den Olympia-Verlag in Nürnberg herausgegebenen Sport Magazin. Seitdem erscheint das Kicker-Sportmagazin zweimal wöchentlich montags und donnerstags sowie mit regelmäßigen Sonderheften, in denen faktenstark und überparteilich über den deutschen und internationalen Fußball informiert wird. Mit einer Auflage von 60.000 bis 70.000 Exemplaren pro Ausgabe und einer digitalen Reichweite von bis zu 13 Millionen Leser*innen pro Monat ist der Kicker heute hinter der boulevardesken Sport Bild das größte deutsche Sportmagazin.
Die Geschichte des Kicker ist von Ambivalenzen und Diskontinuitäten geprägt. Neben seiner zeitlos diskursbestimmenden Rolle in der deutschen Sportberichterstattung beschritt er – den jeweiligen zeitgenössischen Maximen folgend – unterschiedliche politische Marschrichtungen. Insbesondere der radikale Kurswandel des Magazins nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten steht dabei exemplarisch für das Spannungsfeld zwischen Nationalismus und Internationalismus, Tradition und Aufbruch sowie Anpassung und Mittäterschaft, in dem sich viele Journalisten, Verleger und Redaktionen in Deutschland um 1933 befanden. Die Aufarbeitung der Geschichte des Kicker intensivierte sich zum 100. Jubiläum des Magazins im Jahr 2020 und bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte. Widmen sich aktuelle Studien vornehmlich der lange vernachlässigten NS-Vergangenheit des Publikationsorgans sowie der Erinnerung an den zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen Walther Bensemann, bestehen noch Desiderate in der Untersuchung der „Glossen“. Diese können nicht nur für sportgeschichtliche Fragestellungen, sondern auch für die Erforschung gesellschaftlicher, kultureller und medialer Prozesse in der Geschichte der Weimarer Republik fruchtbar gemacht werden. Denn der Erfolg des Kicker ist eingebettet in die allgemeine Entwicklung des Sports zum konsumierbaren, stets ambivalenten Massenphänomen in den 1920er Jahren, das neben demokratisch-emanzipativer Aufbruchstimmung immer auch biopolitisch funktionalisierbare Konzepte von Vitalismus und Körperkult miteinschloss.
Die Ausgaben des Kicker von 1924 bis 2011 liegen mit wenigen Lücken auf Mikrofilmen in der Arbeitsstelle für Geschichte der Publizistik zur Einsichtnahme bereit.
Diese Ausgabe des Publikationsorgans steht hier zum Download (als PDF-Dokument) bereit.