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Publikationsorgan des Monats: November '22

Facettenreiche Frauenemanzipation auf bürgerlichen Bahnen

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"An die Leserinnen.", Auftaktseite der Erstausgabe (Nr. 1/1866).
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"Krieg!", Ausbruch des Deutsch-Französischen Kriegs 1870 (Nr. 16/1870).

„Neue Bahnen“ (1866-1919)

War in Preußen und anderen deutschen Ländern zu Beginn der 1850er in Reaktion auf die Revolutionen 1848/49 jede weibliche politisierte Vereinsgründung oder Herausgeberschaft von Zeitungen verboten worden, schien durch Reformbestrebungen zu Beginn der 1860er Jahre ein – wenn auch prekäres – gesellschaftspolitisches Leben für Frauen greifbarer. Unter den bald erfolgenden Vereinsgründungen befand sich auch der „Allgemeine Deutsche Frauenverein“ (ADF), der als überregional agierende Vereinigung der deutschsprachigen Frauenbewegung unter anderem für einen Paradigmenwechsel in der Mädchenbildung und Erwerbstätigkeit von Frauen eintrat. Als dessen offizielles publizistisches Sprachrohr schöpften die „Neuen Bahnen“ sogleich die wiedergewonnene Organisations- und Publikationsmöglichkeit aus und verkündeten nicht nur mit ihrer Namenswahl, sondern auch in ihrer Erstausgabe hoffnungsvoll: „Ein neues Jahr hat begonnen – und auch wir beginnen mit ihm ein neues Werk, ein Werk, daß wir allen deutschen Frauen widmen, […] und bei dem uns die sichere Hoffnung leitet, daß viele die ‚neuen Bahnen‘ freudig willkommen heißen und eben so freudig entschlossen sind sie mit uns zu wandeln.“

Im Januar 1866 gab die deutsche Frauenrechtlerin, Journalistin und Schriftstellerin Louise Otto unter Mitarbeit Jenny Heinrichs und später Auguste Schmidts zum ersten Mal die „Neuen Bahnen“ heraus. Schnell avancierte sie zu einer der bedeutendsten Zeitschriften der organisierten deutschen Frauenbewegung des ausgehenden 19. sowie frühen 20. Jahrhunderts. Bis 1919 erschien sie in vierzehntägigem Turnus auf jeweils acht illustrationslosen Seiten und umfasste neben und in Verbindung mit der „große[n] Frage der neuen Frauenbewegung“ einen breit angelegten Themenkanon. Bewusst grenzte sie sich von zeitgleich erscheinenden illustrierten Familien- und Frauenjournalen wie dem ab 1886 veröffentlichten „Dies Blatt gehört der Hausfrau“ ab. Statt Kochrezepte und Modevorschläge abzudrucken, berichteten die Herausgeberinnen nicht nur über historische Frauenpersönlichkeiten, Schriftstellerinnen und Künstlerinnen, sondern auch über neue Erkenntnisse in Wissenschaft und Technik, welche etwa die Haushaltsführung erleichtern sollten.

Die in Ottos „Frauenzeitung“ radikaler anklingenden Emanzipationsbestrebungen des Jahres 1849 mussten in den „Neuen Bahnen“ zunächst vorsichtigeren Forderungen weichen, versuchten die Herausgeberinnen doch, jeglichen Vorwurf politischer Agitation zu vermeiden. So deklarierten sie, „im Dienste echter Weiblichkeit die neuen Bahnen einschlagen“ zu wollen, „die den deutschen Frauen des neunzehnten Jahrhunderts zu wandeln ziem[t]en“, jedoch nicht den Weg beschreiten zu wollen, „auf dem das Wort ‚Emanzipation‘ viel eher zur Warnungstafel als zum Siegesruf geworden“ sei. Trotzdem boten die „Neuen Bahnen“ Raum für kontroverse Diskussionen der „Frauenfrage“ – eine Facette, die sich in den vielstimmigen Beiträgen zum Frauenwahlrecht niederschlug und der raschen Differenzierung der bürgerlichen Frauenbewegung in einen gemäßigten, radikaleren und seit 1900 auch konfessionellen Flügel Ausdruck verlieh.

Trotz ihres deklarierten Anspruchs „Stimme der Zeit“ und zugleich „Register- und Nachschlagebuch“ für alle Errungenschaften der Frauenbewegung zu sein, bezogen die „Neuen Bahnen“ einen bürgerlich, protestantisch-preußischen Standpunkt. Im ersten Publikationsjahr geprägt durch das Kriegstreiben Österreichs und Preußens im „deutschen Bruderkrieg“, der den Herausgeberinnen als „unseligster“ aller Kriege erschien, widmete sich die Zeitung der Schaffung nationaler Traditionen, indem sie heroisierende Beiträge zu Leitfiguren deutscher Geschichte von Katharina von Bora bis Königin Luise und – zur Berücksichtigung der österreichisch-deutschen Leserschaft – Maria Theresia publizierte. Ungeachtet ihrer Überzeugung, dass ohne „Vaterlandsliebe […] jede Menschheitsliebe wurzellos in der Luft“ schweben müsse, wichen die „Neuen Bahnen“ anders als viele zeitgenössische Zeitungen nicht davon ab, weiterhin eine fortschrittsfeindliche Schrecklichkeit von Krieg zu betonen. Zugleich nutzten sie die Kriege 1866 und 1870/71 dazu, weibliche Politisierung an die Idee der Frau als friedenswahrenden, opferbereiten „Genius“ der Nation zu knüpfen und Selbstständigkeit durch Selbsthilfe einzufordern.

Im Sinne weiblich-zentrierten Netzwerkens korrespondierten die „Neuen Bahnen“ nicht nur mit dem von Auguste Schmidt mitbegründeten „Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenverein“, dem „Deutschen Schriftstellerverein“ oder dem „Deutschen Philosophenverein“. Über den ADF mit seinen lokalen Ablegern im Deutschen Bund und späteren Kaiserreich hinausblickend, thematisierten sie in der wiederkehrenden Rubrik „Blicke in die Runde“ auch transnational die Fortschritte der Frauenbewegung in anderen Ländern. Akribisch wurden weibliche Vorstöße in Beruf, Schulausbildung und Studium verzeichnet, wobei besonders die Eigenständigkeit der US-Amerikanerinnen den deutschen Frauen als Vorbild dienen sollte. Im Zuge der Zulassung von Frauen zum Abitur und Studium um 1900 – einem Meilenstein für die deutsche Frauenbewegung – rückten kommunalpolitische Themen in den Vordergrund.

Ab 1910 richtete der ADF und somit sein Sprachrohr den Blick zunehmend auf weibliche Gremienarbeit in der Wohlfahrtspflege, womit Frauen als Vermittlerinnen zwischen Privatem und Öffentlichkeit etabliert werden sollten. Zugleich blieben sie damit aber auch der Idee einer spezifisch weiblich-mütterlichen Fürsorge verhaftet. Weitere Kernthemen bildeten außerdem der Rechtsschutz von Arbeiterinnen, die Unterstützung der deutschen Flottenpolitik und weiterhin das Frauenwahlrecht. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs fokussierte sich die Zeitung einerseits auf weibliche Tätigkeiten in der Kriegsfürsorge, der Nahrungsmittelversorgung und der Schulung von Hausfrauen, andererseits aber auch auf neue mögliche Erwerbsfelder, die bis dato männlich konnotiert gewesen waren. Nach Erhalt des Wahlrechts 1918 und dem Einzug erster Frauen in die neu gewählte Nationalversammlung verlor die Zeitung – ebenso wie die organisierte Frauenbewegung – zunehmend an Relevanz. Die den ADF kennzeichnende „parteipolitische Neutralität“ (Angelika Schaser) schien nicht mehr zeitgemäß; ein dezidiertes Vereinsblatt wie die „Neuen Bahnen“ geriet gegenüber den neuen emanzipatorischen Artikulationsmöglichkeiten in Partei- und Gewerkschaftspolitik der Weimarer Republik ins Hintertreffen.

Im Bestand der Arbeitsstelle für Geschichte der Publizistik liegt die Zeitung „Neue Bahnen“ für den Zeitraum 1866 bis 1911 mit einigen Lücken auf Mikrofilm vor. Ein Blick in die „Neuen Bahnen“ ermöglicht nicht nur die Erforschung der Konstituierungs- und Organisationsphase der bürgerlichen Frauenbewegung und deren Politik, sondern bietet auch die Möglichkeit, Querverbindungen zwischen Frauenemanzipation und Nationalisierungsprozessen rund um die Kaiserreichsgründung und den Ersten Weltkrieg anzustellen. Ebenso lohnen sich Zugriffe aus Sicht der Gender Studies, beispielsweise in Hinblick auf die sozial-politische Konstruktion von Geschlecht im partizipatorischen Programm der frühen Frauenrechtlerinnen.

Diese Ausgabe des Publikationsorgans steht hier zum Download (als PDF-Dokument) bereit.