Vermittlungsbemühungen im frühen Ost-West-Konflikt
Publikationsorgan des Monats: „Ost und West“ (1947-1949)
Zum Jahresbeginn 1948 sah Alfred Kantorowicz die Zeit gekommen. „Das deutsche Schicksalsjahr 48“ verhieß seine knappe Einführung in die Neujahrsausgabe von Ost und West. Das Fehlen der Jahrhundertangabe war keine redaktionelle Nachlässigkeit – es war Programm, historische Symbolik. Aus den Tiefen der deutschen Geschichte beschwor Kantorowicz den Westfälischen Frieden von 1648 und die Revolution von 1848 herauf, um nach der Nazidiktatur Hoffnung zu machen für ein demokratisches und einheitliches Deutschland: „Vielleicht wird – trotz allem – das Jahr 1948 dereinst in der Geschichte verzeichnet stehen als das Jahr, in dem es gelang, die deutsche Einheit auf demokratischer Grundlage zu sichern.“ Es sollte schnell anders kommen, wiesen die Zeitumstände und politischen Dynamiken doch eher in eine andere Richtung, von denen die Gründung der BRD und der DDR im Jahre 1949 nur die ersten Schritte waren.
Kantorowicz wusste, wie schmal die Möglichkeiten zur Realisierung eines deutschen demokratischen Einheitsstaates angesichts des aufkeimenden Ost-West-Antagonismus und der diametralen Interessen der Besatzungsmächte unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg waren. Der 1899 in Berlin geborene, promovierte Jurist hatte in jungen Jahren im Ersten Weltkrieg gedient, den Aufstieg des Nationalsozialismus und den schärfer werdenden Antisemitismus aufgrund seiner jüdischen Herkunft an der eigenen Haut erlebt, war in Ahnung des Kommenden schon 1933 nach Paris übergesiedelt, hatte nach der Bücherverbrennung die „Deutsche Freiheitsbibliothek“ und den „Schutzverband deutscher Schriftsteller im Exil“ gegründet, später in den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg gegen Francos Truppen gekämpft und war 1941 schließlich in die USA übergesiedelt. Als er Ende 1946 nach Deutschland in die sowjetische Besatzungszone zurückkehrte und im Juli 1947 die erste Ausgabe seiner kulturpolitischen Zeitschrift Ost und West herausgab, tat er dies nicht aus politischer Naivität. Wo wir uns mit unserem historischen Wissen in der Rückschau allzu schnell auf teleologische Narrative der Unausweichlichkeit verlegen, bewegte sich Kantorowicz in der Offenheit einer Nachkriegssituation, die – in seinem Fall: publizistisch – gestaltet werden konnte.
Gerade weil die Zeichen 1947 ideologisch auf Konfrontation zwischen den drei Westmächten einerseits und der Sowjetunion andererseits stünden und die Atombombe jeden weiteren Krieg zur „Weltkatastrophe“ mache, erschien Kantorowicz die Schaffung eines vermittelnden Mediums geboten. Ost und West – die Namensverwandtschaft mit der weithin bekannten jüdischen Kulturzeitschrift aus Berlin, die zwischen 1901 und 1923 die assimilierten „Westjuden“ mit der Kultur der neu eingewanderten, von diesen oft mit Verachtung behandelten „Ostjuden“ vertraut machen wollte, dürfte kein Zufall gewesen sein. „Der Akzent liegt auf dem ‚UND‘“, proklamierte Kantorowicz in seiner Einführung zur ersten Ausgabe der Zeitschrift. Deren Aufgabe definierte er als eine doppelte: Erstens vollziehe die Zeitschrift ein „geistiges Brückenschlagen“ über die „Zonengrenzen und Einflußsphären“ hinweg, das keinen Unterschied zwischen „westlicher“ und „östlicher“ Kultur mache, sondern deren „Überschneidungen und Verflechtungen, die wechselseitigen, weiterzeugenden Befruchtungen“, ihre historisch gewachsene, „vielfältige Einheit“ betone. Gerade Deutschland sei als „Schnittpunkte der Spannungen“ der geeignete Ort für ein solches Projekt – nicht zuletzt weil hier nach zwölf Jahren Nationalsozialismus der Bedarf nach einer geistigen Neuorientierung am größten sei. Damit zusammen hing das zweite Ziel: Die Zeitschrift sollte das kulturelle Vakuum in Deutschland füllen, das Rassenwahn, nationale Verblendung und Gewaltherrschaft hinterlassen hatten. Mit dem „Import geistiger Güter“, von denen die Deutschen seit 1933 abgeschnitten gewesen seien, sollte sich die Leserschaft wieder „in der Welt umschauen, nach allen Himmelsrichtungen, nach Osten und Westen, nach Norden und Süden“. Insgesamt ging es Kantorowicz mit seiner Zeitschrift also sowohl um die Rückführung der deutschen Gesellschaft in die kulturelle Vielstimmigkeit Europas als auch um die Verteidigung eben jener Vielstimmigkeit gegenüber der Vereinnahmung der Kultur durch die ideologische Blockbildung im beginnenden Ost-West-Konflikt der Großmächte.
Vielstimmigkeit – das hieß für Kantorowicz auch geistige Unabhängigkeit, wie ein Blick in die Entstehungsgeschichte von Ost und West verrät. Als es darum ging, eine Lizenz zur Veröffentlichung seines Zeitschriftenprojekts zu erhalten, fragte er, obwohl er in der sowjetischen Zone lebte, gleich bei allen vier Besatzungsbehörden an. „Ein Präzedenzfall“, wie er selbst konstatierte. Zur Begründung verwies er in seinem Lizenzantrag selbstbewusst darauf, weder „das Organ oder das Sprachrohr einer der Besatzungsmächte“ noch dem Verdacht der Propaganda ausgesetzt sein zu wollen, die die Lizensierung in nur einem Lager notgedrungen mit sich bringe. Beides vertiefe nur die ohnehin bereits erkennbare kulturelle Spaltung Deutschlands und widerspreche dem Ziel der Zeitschrift, an der demokratischen Einheit Deutschlands mitzuarbeiten. Auch wenn nur die sowjetische Behörde eine Lizenz für Ost und West ausgab, wurde sie in allen Besatzungszonen gelesen. Die 30 Ausgaben, die im Anschluss in Berlin-Pankow erschienen, setzten die Prämisse der (transnationalen wie intellektuellen) Vielstimmigkeit schließlich in die publizistische Tat um. Allein die erste Ausgabe wartete mit einer heterogenen Mischung aus Beiträgen auf. Schriftstellerpersönlichkeiten aus unterschiedlichen Ländern wie Heinrich Mann, George Bernanos, Bertolt Brecht, Theodore Dreiser, Peter Huchel und Alexander Blok beteiligten sich an Kantorowicz Vermittlungsbemühungen. Seine eigenen, kommunistisch geprägten Wertvorstellungen ließ Kantorowicz bei der Redaktionsarbeit in den Hintergrund treten – genauso, wie seine Mitgliedschaft in der SED, der er 1947 beigetreten war, keinen großen ideologischen Einflussfaktor darstellte. Auch von seiner Leserschaft erwartete er das Absetzen jeder ideologischen Brille und Lektürekritik: „Glauben Sie nichts blindlings; lassen Sie sich nichts einreden.“
Die Zeitschrift war nur von kurzer Dauer. Trotz einer zeitweiligen Auflagenstärke von 70.000 Exemplaren war im Dezember 1949 Schluss. Als Begründung führte der Herausgeber die Währungsreform von 1948, die wirtschaftliche Abkopplung zwischen den westlichen Zonen und der östlichen Zone sowie Vertriebsschwierigkeiten der Post an. Tatsächlich war die Nachfrage zuletzt drastisch gesunken, vielleicht auch, weil die Ereignisse ihr Anliegen zunehmend unrealistisch machten. Die Zeitschrift hatte sich finanziell zu einem nicht länger haltbaren Zuschussgeschäft entwickelt. Politischer Druck aus der SED dürfte aber ebenfalls seinen Anteil gehabt haben: Nach der Gründung der DDR war eine öffentliche Stimme der Vereinigung und kulturellen Vermittlung nicht länger erwünscht. Kantorowicz, sichtlich frustriert und nun, wenig zurückhaltend, ganz im Modus kommunistischer Schuldzuweisung, sah mit dem Ende seines publizistischen Dialoges zwischen Ost und West eine dunkle Zukunft heraufziehen: „Aber es sollte nicht sein. Es durfte nicht sein. Man wollte keine Verständigung, keinen Ausgleich der Spannungen, keinen modus vivendi. Man wollte den Krieg, den kalten vorerst, um den heißen Krieg, den Atomkrieg […] bei erster günstiger Gelegenheit, das heißt, sobald die westeuropäischen Völker kirre gemacht sein würden, vom Zaun brechen zu können, den ‚Kreuzzug‘ gegen den sozialistischen Staat im Osten, der durch seine bloße Existenz, durch das Beispiel seiner mächtigen Entwicklung den Bankiers und Trustherren jenseits des Ozeans schlaflose Nächte machte.“
Die weitestgehend in Vergessenheit geratene Zeitschrift Ost und West kann für ihren gesamten Erscheinungszeitraum im Reprint in der Arbeitsstelle für Geschichte der Publizistik eingesehen werden. Sie ist eine bemerkenswerte publizistische Quelle für die unmittelbaren Nachkriegsjahre Deutschlands, das zwar zunehmend das Epizentrum der ideologischen Konfliktlinien und machtpolitischen Blockbildungen des sich anbahnenden Kalten Krieges wurde, dessen Teilung aber noch nicht zementiert war. Sie verrät viel über die zeitgenössischen Versuche, Chancen und Grenzen der intellektuell-kulturellen Neugründung Deutschlands nach dem Nationalsozialismus. Ihr Kerngedanke – der produktive Dialog von „Ost“ und „West“ und deren „vielfältige Einheit“ – ist angesichts der aktuellen Debatte um die Frage, ob und inwieweit Deutschland „ungleich vereint“ (Stefan Mau) ist, auch 35 Jahre nach dem Mauerfall aktueller denn je.
Diese Ausgabe des Publikationsorgans steht hier zum Download (als PDF) zur Verfügung.