Tempo. Temporeiche Modernitätsbejahung
Mit ihrem jüngst begangenen Anniversarium hat die Weimarer Republik eine Wiederentdeckung als kulturelle Eigenepoche erlebt. Statt die Weimarer Kulturgeschichte als Ausdruck eines permanenten Krisenmodus der „Klassischen Moderne“ (Detlev Peukert) zu begreifen, stehen ihre kulturellen Avantgardeleistungen im Mittelpunkt, die auf einen modernitätsbegrüßenden Gestaltungsoptimismus und eine alle gesellschaftlichen Lebensbereiche erfassende, emanzipatorische Aufbruchsstimmung zurückgeführt werden. Dass sich das „Experiment Weimar“ (Sabina Becker) in der Herausbildung der modernen Konsumgesellschaft, einer demokratischen Massenkultur und einer blühenden Presselandschaft widerspiegelte, zeigt kaum eine Zeitung anschaulicher als die „Tempo“. Der modernen Lebensbejahung der jungen Republik schlechthin verschrieben, fand sie sogar ihren Weg in die dritte Staffel der deutschen Erfolgsserie „Babylon Berlin“, die zum Teil in den nachempfundenen Redaktionsräumen der „Tempo“ spielt.
Die „Tempo“ wurde 1928 als Zeitung des Ullstein-Verlags in Berlin gegründet und richtete sich explizit an die junge, geburtenstarke und konsumorientierte Nachkriegsgeneration der Mittzwanziger aus berufstätigen Männern und Frauen, die meist im boomenden Dienstleistungssektor tätig waren. Diese sei, so der auf das neue Blatt bezugnehmende Ullstein-Bericht im Oktober des Jahres, „tatsächlich bisher ohne eine Zeitung gewesen, die auf ihre besonderen Bedürfnisse zugeschnitten“ sei; die „Tempo“, die den „Schwung der jungen, vorwärts dringenden Generation, die der Bewegung ihrer Zeit nicht nachkeucht, sondern sie miterlebt“, repräsentiere, werde diese Lücke der welthauptstädtischen Öffentlichkeit schließen. Das Gefühl rasant beschleunigter, moderner Lebensführung, für das die Zeitung mit ihrem Namen stand, drückte sich auch in ihrer Aufmachungbund Programmatik aus. So kam die „Tempo“ zwischenzeitlich in drei verschiedenen Ausgaben täglich heraus und wollte „Wissen auf dem kürzesten und schnellsten Weg“ vermitteln. Sie verstand sich als eine fotojournalistische „Bilderzeitung“, die sich mit platzeinnehmenden Fotographien gegenüber den etablierten Zeitungen aufmerksamkeitsheischend zu platzieren versuchte und mit dadaistischen Collagen auf die künstlerischen Avantgardeströmungen der Republik zurückgriff. Neben „kurzen, klaren Glossen“ zu Politik und den „neuesten Methoden des Konkurrenz- und Erfolgskampfes“ in der Wirtschaftbversprach die Zeitung ihrer jungen Leserschaft „Literatur, Kunst, Musik, Theater, Film, Radio usw.“ nach „modernem Geschmack“ sowie Debatten über „Ehe-, Kinder- und Geschlechtsprobleme“ und zur „Körperkultur“.
Da der Ullstein-Verlag der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP) nahe stand, verfolgte die Gründung der „Tempo“ unverkennbar auch eine politische Stoßrichtung: Die Reichstagswahlen im Mai des Jahres hatten einen deutlichen Stimmenverlust für die DDP und eine Fortsetzung des politischen Schrumpfungsprozesses des liberaldemokratischen Blocks zur Folge gehabt. Indem sie die jüngere Generation „in Massen zur staatsbürgerlichen, produktiven Denkweise führen“ wollte, war die Zeitung auch zur zeitgemäßen demokratischen Erziehung und zur Gewinnung für den politischen Liberalismus gedacht. Trotz Wirtschaftskrise und der Erstarkung des Nationalsozialismus in den frühen 1930er Jahren gab das Blatt seinen demokratischen Impetus bis zu seiner „Gleichschaltung“ zu Beginn des Jahres 1933 nicht auf. Als die „Tempo“ im August 1933 eingestellt wurde, verlor der Ullstein-Verlag nicht nur sein erstes Publikationsorgan überhaupt an das nationalsozialistische Regime, sondern die Weimarer Republik ihrevielleicht modernste Zeitung.
In der Arbeitsstelle für Geschichte der Publizistik lässt sich die „Tempo“ für ihren gesamten Erscheinungszeitraum vom 11. September 1928 bis zum 05. August 1933 vollständig einsehen. Die Zeitung stellt eine unverzichtbare Quelle für die Erforschung liberal-demokratischer Modernitäts- und Beschleunigungsdiskurse unter neuen kulturgeschichtlichen Vorzeichen dar, eignet sich besonders für die Untersuchung wandelnder Generations-, Sexual-, Geschlechter- und Körperkonzepte in den 1920er und 30er Jahren und zeigt paradigmatisch die Existenz einer massenkulturellen Öffentlichkeit in der Mittel- und Spätphase der Weimarer Republik auf.
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