Spätaufklärerische Zeitungstheorie in der Praxis
Schlözers „Stats-Anzeigen“ (1782-1793)
Die bürgerlichen Intellektuellen lasen sie gierig, die Auflage war mit bis zu 4.400 Abonnementen ihrerzeit hoch, und der Nachfolger von Maria Theresia auf dem österreichischen Thron, Joseph II., soll einer Anekdote zufolge mit einer Mischung aus Furcht und Neugierde ausgerufen haben: „Bring mir [...] nur bald den Schlözer wieder!“ Kaum eine Zeitung in den letzten zwei Dekaden des 18. Jahrhunderts war von den gesellschaftlichen und politischen Eliten gleichermaßen so angesehen und gefürchtet wie die Stats-Anzeigen von August Ludwig von Schlözer (1735-1809). Sein Name, auf der ersten Seite jeder Ausgabe in großen Lettern abgedruckt, war den Zeitgenossen rasch ein geflügeltes Wort und im gesamten Alten Reich bekannt: „Schlözer“ stand für publizistische Qualität, fundierte Obrigkeitskritik und politische Debatte. Noch gut siebzig Jahre nach Schlözers Tod feierte Heinrich von Treitschke in seiner Geschichte des Neunzehnten Jahrhunderts dessen Sonderstellung in der Öffentlichkeitslandschaft vor 1800, die von Zensur und Geheimpolitik geprägt war: „Allen Potentaten durfte Schlözer in seinen Staatsanzeigen die Wahrheit sagen“. Wer aber war dieser Schlözer – und was machte seine Stats-Anzeigen so besonders, dass selbst der habsburgische Regent und deutsche Kaiser sie zu lesen verlangte?
Schlözer, der einer bürgerlich protestantischen Pfarrersfamilie entstammte, begeisterte sich schon als Sechzehnjähriger für das Medium Zeitung. Sein frühes Interesse an historischer Staats-Statistik schlug sich in der Freizeitbeschäftigung nieder, Zeitungsmeldungen über Todesfälle und Geburten von Herrschern und ihrer Verwandtschaft in ein genealogisches Reichs- und Staatshandbuch zu übertragen. Während seines Theologie-Studiums, das er mit einer Dissertation in Wittenberg erfolgreich abschloss, arbeitete er auf Reisen nach Schweden als Zeitungsreporter für den Altonaer Reichs-Post-Reiter, um seinen Unterhalt zu bestreiten. Nach weiteren Jahren als Korrespondent und Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften im russischen Sankt Petersburg nahm er, statt den Beruf des Predigers zu ergreifen, 1769 schließlich eine einflussreiche Professur für Geschichte, Politik und Statistik in Göttingen an. Bis zu seinem Tod 1809 sollte er in dieser Position nicht nur die Statistik als akademisches Fach mitbegründen, sondern in seinen vorwiegend geschichtstheoretischen Abhandlungen auch maßgeblich zur Verwissenschaftlichung des Fachs Geschichte im Übergang zur bürgerlichen Moderne beitragen.
In Göttingen verdichteten sich dann aber vor allem Schlözers allabendliche Leseroutine diverser Zeitungen und politischer Journale, sein Praxiswissen um das Zustandekommen von Nachrichten und sein Faible für historisch-politische Wissenschaften zu einer Theorie kritischen Zeitungslesens. In der im 18. Jahrhundert immer enger getakteten Periodizität von Zeitungen und der damit einhergehenden Schnelligkeit von Nachrichten sah Schlözer die Möglichkeit, Ursachen und Wirkungen von Politik entlang der Zeitungs-„Data“ aus der bürgerlichen Außenperspektive heraus zu ermessen und somit „Geschichte im Werden“ (Holger Böning) zu verfolgen. Zeitungen boten in Schlözers Interpretation einen Einblick in das mühevolle und nicht selten widersprüchliche Tagesgeschäft der hohen Politik. Deren Akteure – Monarchen, Minister, Diplomaten – erschienen dadurch nicht länger in dem exklusiven Wissen göttlicher Dignität zu operieren, sondern, ähnlich dem zeitungslesenden Gelehrten in seiner Stube, staatliche Entscheidungen abwägend ins lediglich logisch-kausal erschlossene Dunkel der Zukunft hinein zu treffen. Der Wissensabstand zwischen Staat und Untertan war damit eingeebnet, der monarchische Anspruch auf geheime Arkanpolitik nur noch Schein.
War das Medium Zeitung die Grundbedingung für eine solche Neuausrichtung von Staat und Öffentlichkeit, war die „Kunst Zeitungen zu lesen“ Schlözer zufolge deren Schlüssel. Diese Idee schlug sich ab 1777 in der Gründung eines universitären „Zeitungs-Collegiums“ durch Schlözer auch institutionell nieder. Hier sollten seine Studierenden entsprechend lernen, mit Zeitungen kritisch-analysierend umzugehen: Empirische Informationen von haltlosen Gerüchten unterscheiden, relevante und oftmals zwischen den Zeilen versteckte Daten extrahieren, rationale Zusammenhänge zwischen den vereinzelten Meldungen herstellen, keine voreiligen, sondern gegengeprüfte und begründete Urteile fällen. Die Stats-Anzeigen, die ab 1782 in sechswöchentlichem Rhythmus erschienen, entsprangen diesem fast schon revolutionärem Zeitungsverständnis. Ganz im Gedankengut der Spätaufklärung stehend und auf Voltaire und Rousseau zurückgreifend, wollte Schlözers Zeitung transparent über Staat und Gesellschaft informieren, zur vertieften politischen Diskussion einladen, die Urteilsfähigkeit des Bürgers schärfen und ihn so zu einem politisch mündigen Subjekt aufwerten, der sich über die Lektüre der Anzeigen selbstständig aus der Meinungsmacht der Obrigkeit befreien könne.
Ein weitverzweigtes Korrespondentennetz und eine integrative Redaktionspolitik, die Beiträge grundsätzlich abdruckte, solange sie Schlözer seriös genug erschienen und nicht anonym eingesandt wurden (auch wenn er die Namen der Autoren auf Wunsch nicht veröffentlichte), ließ die Zeitung als ein unparteiliches Forum eines schriftlich geführten Diskurses zwischen aufgeklärten Bürgern erscheinen, in dem nicht „Kannengießerei“, sondern das Argument dominierte. Originalquellen wie kursierende Flugblätter, offizielle Deklarationen oder königliche Briefe nahm Schlözer ebenfalls in seine Anzeigen mit auf – eine größtmögliche unabhängige Überprüfbarkeit der veröffentlichten Artikel war ihm wichtig. Explizit wies sich Schlözer in der ersten Ausgabe von 1782 die bescheidene Rolle als „blos Sammler, Herausgeber, Handlanger bei Andrer ihren Dienstleistungen, Ausspender fremder Wohltaten“ zu. Als solcher gedachte er gerade auch eingesandte „Berichtigungen“ abzudrucken, um die „in die vorigen Hefte eingeschlichene[n] Unrichtigkeiten“ zu korrigieren.
Indem Schlözer seine Stats-Anzeigen in dem von England regierten Kurfürstentum Hannover drucken ließ, wo im Vergleich zu vielen anderen deutschen Staaten liberalere Presseverordnungen herrschten, entgingen diese einer rigiden Zensur. So konnten sie Kritik etwa an dem Abhängigkeitsverhältnis der Leibeigenschaft, der geistigen Bevormundung durch die Kirche oder der repressiven Einschränkung der Meinungsäußerung freier artikulieren als viele andere Blätter jener Zeit. Die Französische Revolution begrüßten die Anzeigen zunächst euphorisch. Doch mit dem Abgleiten der Revolution in die Phase des „Terreur“, der Jakobinerherrschaft und der Hinrichtung des Königspaares wich die anfängliche Begeisterung wie bei vielen Frühliberalen rasch einer großen Ernüchterung. Inzwischen waren die Anzeigen-Texte stetig länger und die Zeitung mit immer mehr Originalmaterial zunehmend sperriger geworden. Die Popularität der Zeitung büßte seit den späten 1780er Jahren ein. Mit dem Ausbruch des Ersten Koalitionskrieges 1792 und der unmittelbaren Gefahr eines Revolutionsexports in den Rest Europas zogen die Regierungen überall die Zügel an; auch die Stats-Anzeigen wurden nun verboten. Mahnend schloss Schlözer die letzte Ausgabe seiner Zeitung von 1793 mit den Worten: „Reformen brauchen wir Deutsche; unmöglich kann es immer beim Alten bleiben: aber vor der Revolution bewahre uns der liebe Herrgott!“
In der Abteilung für Geschichte der Publizistik sind alle Bände von Schlözers Stats-Anzeigen von 1782 bis 1793 gedruckt vorhanden und können jederzeit eingesehen werden.
Sie können diese Ausgabe des Publikationsorgans hier (als PDF) herunterladen.