Nationalsozialistische Raumplanungen
"Raumforschung und Raumordnung" (1936-1944)
Raum ist überall. Permanent bewegen wir uns in Räumen, denken wir in ihnen, verändern sie. Konnte der britische Journalist Tim Marshall noch vor wenigen Jahren mit „Macht der Geographie“ einen internationalen Beststeller landen, indem er seiner Leserschaft die „Zwänge der Geographie“ für die Weltpolitik erklärte, hat die Geschichtswissenschaft mit ihrem ausgerufenen „spatial turn“ solche einseitigen Narrative zuletzt stärker in Frage gestellt. Natürlich sind Berge, Flüsse, Wüsten und Seen realphysische Einflussfaktoren auf die Bewegungsmöglichkeiten des Menschen – doch wie Zeitgenossen diese Bedingungen wahrnehmen, wie sie sie interpretieren und welche Konsequenzen sie für ihr Handeln daraus ziehen, ist nicht gesetzt und hängt mit den gesellschaftlichen Konzepten, Begriffen und Imaginationen des Raumes zusammen, die weder homogen noch unveränderlich sind. Ob die im 19. Jahrhundert gängige Gegenüberstellung der vermeintlichen Großräume von „Orient“ und „Okzident“ oder die geopolitischen „Einkreisungs“-Neurosen des deutschen Kaiserreichs um 1900 – Raumvorstellungen sind alles andere als wertfrei, sondern eng mit Politik, Kultur und Ideologie verwoben.
Für das NS-Regime waren „Raumfragen“ von elementarer Bedeutung. Adolf Hitler hatte den „Kampf um Lebensraum“ folgenschwer in den Mittelpunkt seiner völkischen, sozialdarwinistischen und biologistischen Weltanschauung gestellt. Von 1933 an avancierte „Raumforschung“ entsprechend zu einer wichtigen akademischen Disziplin in Deutschland, was sich ab 1935/36 mit der Gründung von 40 „Hochschularbeitsgemeinschaften für Raumforschung“ an vielen deutschen Universitäten, in der Berliner „Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung“ (RAG) und der dafür eingerichteten Aufsichtsbehörde „Reichsstelle für Raumordnung“ auch institutionell manifestierte. Zugleich als publizistisches Bindeglied für den wissenschaftlichen Diskurs und praxisorientiertes Austauschmedium zwischen Forschung, Politik und Wirtschaft konzipiert, gab die RAG ab Oktober 1936 die Monatszeitschrift Raumforschung und Raumordnung heraus.
In ihr, so das Geleitwort zur ersten Ausgabe, werde es um „die Kernfragen des Nationalsozialismus“ gehen: „Blut und Boden, Volk und Raum“. Der Berliner Professor für Agrarwissenschaft und Herausgeber der Zeitschrift, Konrad Meyer, fasste zum Auftakt den programmatischen Leitgedanken der nationalsozialistischen „Raumordnungsaufgaben“ zusammen: Nach der angeblichen Zerstörung der „volksgemäße[n] Ordnung des Raumes“ durch den liberalen Staat würden Wissenschaft und Politik nun gemeinsam eine „uns Deutschen artgerechte […] Ordnung des Volksbodens“ wiederherstellen, die geeignet sei, „nach innen und außen die Geschlossenheit, das Wachstum und die Leistungskraft der Volksgemeinschaft für alle Zeiten“ zu sichern. In der Folge gingen in dem Blatt organische Gesellschaftsvorstellungen, rassistische und antisemitische Deutungsmuster und eine mythologische Verklärung des Bauerntums mit Überlegungen zur eugenischen Bevölkerungspolitik, der Wehrfähigkeit Deutschlands und der Ankurbelung der Wirtschaft Hand in Hand.
Ganz bewusst hatten sich die Zeitschrift und die in ihr zu Wort kommenden Forscher – führende deutsche Geographen, Agrarwissenschaftler, Nationalökonomen, Architekten, Sozialwissenschaftler und Bevölkerungsstatistiker – damit in den Dienst der NS-Politik gestellt und sich der ideologiebasierten Lösung ihrer raumplanerischen Probleme verschrieben. Anfänglich ging es überwiegend um die wirtschaftliche Belebung des Reichs. Fragen der Verkehrspolitik und des Ausbaus der Autobahnen waren ebenso Hauptthemen wie die strukturelle Verbesserung wirtschaftsschwacher „Notstandsgebiete“, die die Wissenschaftler im Emsland, in der Rhön oder auch der Eifel und dem Hunsrück zu erkennen glaubten. Als ihre „Symptome“, die es raumplanerisch zu heilen galt, führten unzählige Aufsätze eine geringe Bevölkerungsdichte, unterdurchschnittlichen Wohlstand, eine geringe Lebenserwartung und Abwanderung ins Feld an. Fotographien von heruntergekommenen Gehöften, ärmlich aussehenden Einwohnern und unbefestigten Straßen sollten die Rückständigkeit dieser Regionen suggerieren, die der „Gesundung“ und Entfaltung des ganzheitlichen „Volkskörpers“ entgegenwirke. Ab 1938 standen dann aber andere Fragen im Vordergrund: Die raumplanerische Begleitung und Legitimierung der außenpolitischen Expansion des „Dritten Reichs“. Zunächst nahm sich die Zeitschrift der räumlich-kulturellen Integration der neu annektierten oder unter Protektorat gestellten Gebiete Österreichs, Oberschlesiens, des Sudetenlands sowie Böhmen und Mähren an, mit der die Grundlagen für „eine neue vernünftige Ordnung in Mitteleuropa“ geschaffen werden sollte, wie es ein Artikel euphemistisch formulierte. Nach dem Überfall auf Polen im September 1939 arbeitete die RAG schließlich an einer mit der nationalsozialistischen Weltanschauung übereinstimmenden Raumorganisation der „Ostmark“, mit der die dortige „Germanisierungs“-Politik und ihre verbrecherischen Besatzungsmethoden pseudowissenschaftlich flankiert wurden.
Die Gründe für die Beteiligung der Wissenschaftler an der nationalsozialistischen „Raumforschung“ waren vielfältig. Einerseits gab das Regime zentrale Impulse, koordinierte Forschungsbemühungen und schuf einen institutionellen Rahmen; andererseits war der Hang zur „Selbstmobilisierung“ (Oliver Werner) und eine Identifikation mit den Zielen der NS-Politik unter den Forschern weit verbreitet. Die akademische Statusaufwertung der „Raumforschung“, die neue Möglichkeiten zur Realisierung beruflicher Ambitionen, der Gründung neuer Seminare und der Einwerbung großzügiger Forschungsgelder bot, förderte die wissenschaftliche Kooperation mit dem nationalsozialistischen System. An der Universität zu Köln konnte etwa der Wirtschaftshistoriker und -geograph Bruno Kuske innerhalb weniger Jahre ein gut ausgestattetes „Institut für Raumforschung“ etablieren und, nicht zuletzt über sein publizistisches Wirken in der Zeitschrift, zum wichtigsten Experten für die Raumplanung im Rheinland aufsteigen. Zentrales Anliegen Kuskes war die Vereinigung des Rheinlands und Westfalens mit dem von deutschen Truppen besetzten Belgien und der Niederlande zu einem einheitlichen Wirtschaftsraum. Mit dem Rhein als verbindendes Raumelement von Handelsströmen und Köln als Hauptstadt sollte dieser Großraum das wirtschaftlich-industrialisierte Herz des NS-Staates im Westen werden. Die Niederlage des nationalsozialistischen Deutschlands im Zweiten Weltkrieg ließ diese (und andere) Großraumträume jedoch platzen. Schon 1944 hatte die RAG die Zeitschrift Raumforschung und Raumordnung wegen Papiermangels und der Bombardierung Berlins einstellen müssen. Die RAG selbst blieb allerdings über den Krieg hinaus bestehen, wurde 1946 in „Akademie für Raumforschung und Landesplanung“ umbenannt und sitzt heute als Teil der Leibniz-Gemeinschaft in Hannover.
In der Arbeitsstelle für Geschichte der Publizistik lässt sich die Zeitschrift Raumforschung und Raumordnung für den Zeitraum von 1936 bis 1941 mit Lücken im gedruckten, einst von Kuskes Kölner „Institut für Raumforschung“ angeschafften und katalogisierten Original einsehen. Wer die Kernkategorie des „Raumes“ innerhalb der nationalsozialistischen Weltanschauung in wissenschaftlicher Theorie und politischer Praxis analytisch vermessen möchte, kommt um die Zeitschrift als Quelle nicht herum. Sie gibt Aufschluss über das Raumdenken und Raumplanen des Nationalsozialismus im Kontext von Agrar- und Wirtschaftspolitik, Krieg und Besatzung, Vertreibung und Massenvernichtung. Paradigmatisch zeigt sie die intellektuelle und institutionelle Verschmelzung von Wissenschaft und Politik im NS-Regime.
Diese Ausgabe des Publikationsorgans steht hier zum Download (als PDF) zur Verfügung.