Nationalliberale Stimmen eines Friedensnobelpreisträgers
Publikationsorgan des Monats: „Deutsche Stimmen“ (1899-1930)
In der Brabanter Straße in Köln, unweit der U-Bahn-Haltestelle Friesenplatz, steht ein schönes, gelbes Haus. Es ist einer dieser klassischen Kölner Altbauten: fünf Stockwerke, Klinker, Stuck und Erker. Erbaut, so informieren große Ziffern an der Fassade, wurde es im Jahr 1897. Das Haus in der Brabanter Straße 47 ist heute als Baudenkmal ausgewiesen, doch ihm wohnt eine historische Bedeutung inne, die inzwischen in Vergessenheit geraten ist. Im Jahr 1899, also zwei Jahre nach Beendigung der Bauarbeiten, wurde das Haus nämlich zum Redaktionssitz eines kleinen, politischen Periodikums. Und auch wenn diese Zeitschrift nicht lange in Köln beheimatet blieb und ihre Geschichte zeitweise fragmentarisch und unbeständig erscheint, so entwickelte sie sich nach dem Ersten Weltkrieg doch zu einem bedeutenden Publikationsorgan der Weimarer Republik. Sie diente als publizistisches Sprachrohr eines Mannes, der tiefe Spuren in der deutschen Geschichte hinterließ – als Reichskanzler, Außenminister und Friedensnobelpreisträger: Gustav Stresemann.
Freilich war die Bedeutung, die das Blatt in späteren Jahren entfalten sollte, nicht abzusehen, als Wilhelm Johannes die Deutschen Stimmen als „Halbmonatsschrift für Vaterland und Denkfreiheit“ in Köln gründete. Johannes, ein promovierter Literaturhistoriker, hatte jedoch einen prominenten Drucker in seinem Rücken: den Verlag M. DuMont Schauberg. Auf Betreiben des protestantischen Industriellen Arthur vom Rath gegründet, präsentierte das Blatt in seinen Anfangsjahren eine Reihe von Aufsätzen und Kommentaren zu Themen des nationalen Liberalismus – jeder von ihnen stellte eine der „Deutschen Stimmen“ dar. Ihre Verfasser entstammten dem (Bildungs-)Bürgertum des Kaiserreichs, die meisten von ihnen führten Doktor- oder Professorentitel. Eine Besprechung in der wissenschaftlichen Beilage der Leipziger Zeitung vom Juli 1900 brachte die politische Ausrichtung der neugegründeten Zeitschrift etwas umständlich auf die folgende Formel: „Die Deutschen Stimmen vertreten in schneidiger Weise die Interessen des Nationalliberalismus, speciell [sic] des rheinischen Nationalliberalismus; als nationalliberale Zeitschrift vertreten sie natürlich auch die nationalen Interessen, aber der Hauptschwerpunkt liegt für sie beim Worte nationalliberal doch auf dem liberal.“
Die Nationalliberale Partei war eine der stärksten, aber auch ambivalentesten Parteien im deutschen Kaiserreich. Insbesondere im „Kulturkampf“ der 1870er-Jahre war sie als eine der treibenden Kräfte gegen den politischen Katholizismus aufgetreten. Im Zusammenhang mit den „Sozialistengesetzen“ zeigte sich hingegen die Zerrissenheit der Nationalliberalen Partei, welche sowohl ihren links- als auch ihren rechtsgerichteten Flügel in Einklang bringen musste. Die Deutschen Stimmen stellten sich in ihren Anfangsjahren jedoch ganz in die Tradition der Bismarck’schen Innenpolitik. So wurden Ultramontanismus und Sozialdemokratie schon in der Druck-Ankündigung als „hauptsächlich zu bekämpfende Feinde“ bezeichnet. Die Leipziger Zeitung lobte zwar, dass es Johannes gelungen sei, „die Hauptvertreter des rheinischen geistigen Lebens, soweit sie nicht ultramontan gerichtet sind, sowie eine große Anzahl anderer deutscher Gelehrter unter ihrer Fahne“ zu versammeln. „Allgemeinere Bedeutung für Gesammtdeutschland [sic]“, stellte sie jedoch abschließend fest, „werden die Deutschen Stimmen nach unserer Anschauung schwerlich erringen.“
Der Rezensent sollte sich täuschen. Bald wurde die Herausgeberschaft nicht nur um den Stuttgarter Reichstagsabgeordneten Johannes Hieber und den Generalsekretär der Nationalliberalen Partei Albrecht Patzig verstärkt, sondern die Zeitschrift siedelte auch, in ihrem Umfang erweitert, in den Verlag W. Baentsch nach Berlin über. Spätestens durch den Zusammenschluss mit der offiziellen Agitationsschrift Nationalliberale Correspondenz im Jahr 1906, etablierten sich die Deutschen Stimmen endgültig als publizistische Plattform der Nationalliberalen Partei. Dies zeigte sich auch in der gesteigerten Auflage: Zwischen 1907 und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs konnten rund 1,2 Millionen Exemplare abgesetzt werden.
Die wichtigste Zäsur in der Geschichte der Deutschen Stimmen markiert jedoch das Jahr 1917. Während auf den Schlachtfeldern Europas der Weltkrieg tobte, wurde Gustav Stresemann zum Vorsitzenden der Nationalliberalen Partei ernannt. Im Jahr 1878 als Sohn eines Gastwirts in Berlin geboren, führte er die Nationalliberalen fortan durch eine disruptive Zeit. Die Belastungen des Krieges und das Ende des Kaiserreichs, schließlich die Novemberrevolution und die Krisen zu Beginn der Weimarer Republik – all dies warf drängende soziale, wirtschaftliche und politische Fragen auf. „Die Revolution im Augenblick des Waffenstillstandes war für Deutschland das größte Unglück, das ihm nach dem verlorenen Krieg geschehen konnte“, brachte Karola Bassermann, Tochter des ehemaligen Parteivorsitzenden Ernst Bassermann, das nationalliberale Verständnis der politischen Lage in der Neujahrsausgabe der Deutschen Stimmen von 1919 auf den Punkt.
Zu den fundamentalen Umbrüchen, die das Ende des Krieges begleiteten, zählte auch das Auseinandersplittern der Nationalliberalen Partei. Während Stresemann an der Spitze der neugegründeten Deutschen Volkspartei (DVP) einen auf Ausgleich gerichteten Kurs verfolgte, schloss sich der linksliberale Flügel der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und der rechtsgerichtete der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) an. Die Deutschen Stimmen, die nun von Stresemann persönlich im eigens eingerichteten „Staatspolitischen Verlag“ herausgegeben wurden, dienten dem DVP-Vorsitzenden seit dieser Zeit als elementares Sprachrohr. Hier konnte er seine Antworten auf die drängenden Fragen der Zeit formulieren, sein politisches Handeln rechtfertigen, in innerparteilichen Konflikten moderieren und die nationalliberale Programmatik verbreiten. Jede Ausgabe enthielt einen Leitartikel, der häufig von ihm selbst (oft unter einem Pseudonym) verfasst worden war, und daran anschließend in alter Tradition mehrere „Stimmen“ zu unterschiedlichen politischen oder historischen Themen. Zum Ende jeder Nummer warb die Rubrik „Bücherschau“ für publizistische Neuerscheinungen aus dem nationalliberalen Umfeld.
Zunächst wöchentlich, später jeweils am 5. und am 20. eines Monats erscheinend, verzichtete das Blatt fast ausschließlich auf Illustrationen. Eine bemerkenswerte Ausnahme markierte die Ausgabe vom 20. August 1923: Anlässlich seiner in der Vorwoche erfolgten Ernennung zum Reichskanzler präsentierte es eine große Fotografie Stresemanns. „Die Deutsche Volkspartei hat das größte Opfer gebracht, das eine Partei dem Vaterlande bringen kann“, schrieb Ernst Scholz im Aufmacher der Ausgabe. „Sie hat in schwerster Zeit ihren besten Mann zur Führung der Reichsgeschäfte zur Verfügung gestellt.“ Während seiner kurzen, aber ereignisreichen Regierungszeit erklärte Stresemann den „Ruhrkampf“ für beendet und überwand durch die Einführung der Rentenmark die Hyperinflation. Seine Leitartikel in den Deutschen Stimmen erschienen während dieser Episode unter dem Namen seines Sekretärs Henry Bernhard und wurden später gesammelt in der Broschüre „Das Kabinett Stresemann“ herausgegeben.
Auch nach seiner Kanzlerschaft blieben die regelmäßigen politischen Kommentare Stresemanns das Herzstück des Publikationsorgans. Den zeitgenössischen Interpretationen des nationalen Liberalismus entsprechend, wurden in den Deutschen Stimmen teilweise aber auch rechte bis völkische Narrative verbreitet – eine Spielart der bereits im Kaiserreich erfolgten Annäherung des rechten Parteiflügels der Nationalliberalen an kolonialimperiale Akteure und deren rassistische Deutungsmuster. So äußerte sich Stresemann selbst am 17. November 1918 im Sinne der „Dolchstoßlegende“, und der im Jahr 1924 abgedruckte Artikel „Nationaldeutsche Juden“ transportierte antisemitische Stereotype. Andererseits erschien die Zeitschrift durchaus progressiv: etwa durch die von Clara Mende herausgegebene, regelmäßige Beilage „Die Frau in der Politik“ oder den auf Versöhnung mit Frankreich pochenden Kurs der Stresemann‘schen Außenpolitik. Dabei ging das Blatt grundsätzlich auch publizistischen Fehden nicht aus dem Weg. So lieferte sich Stresemann regelmäßig Auseinandersetzungen sowohl mit der (sozial)demokratischen als auch der deutschnationalen Presse.
Als Stresemann als Außenminister im Herbst 1925 die Verträge von Locarno verhandelte, die Deutschland einen Platz im Völkerbund und ihm sowie dem französischen Außenminister Aristide Briand den Friedensnobelpreis einbringen sollten, druckten die Deutschen Stimmen auf 17 Seiten seine Rede über das „Werk von Locarno“ ab. Der Erfolg der Politik Stresemanns übertrug sich allerdings nicht auf sein Publikationsorgan. Waren die Deutschen Stimmen von Anfang an auf Subventionen angewiesen, brachte vor allem das gebildete, liberale Bürgertum kein nachhaltiges Interesse am Kauf der Zeitschrift auf – zumindest dann nicht, wenn gerade kein Wahlkampf war. Im Jahr 1928 übernahm Stresemann persönlich eine Bürgschaft, um seinen „Staatspolitischen Verlag“ vor dem Bankrott zu bewahren. Somit ist es wenig verwunderlich, dass mit seinem Tod im Jahr 1929 nicht nur die DVP und der deutsche Liberalismus geschwächt wurden, sondern auch die Parteipublizistik einen Niedergang erfuhr. Bereits im Folgejahr wurde der Betrieb der Deutschen Stimmen eingestellt.
Zur Geschichte des Liberalismus in Deutschland wurde eingehend und intensiv geforscht. Doch die Publizistik der politischen Parteien, insbesondere der DVP, ist bisher selten zum Gegenstand historischer Analysen gemacht worden. Die Deutschen Stimmen bieten deshalb noch zahlreiche Anknüpfungspunkte, um für geschichtswissenschaftliche Forschungen fruchtbar gemacht zu werden. Als persönliches politisches Sprachrohr Stresemanns gewährt die Zeitschrift nicht nur wichtige Einblicke in politische, soziale und wirtschaftliche Grundüberlegungen des nationalliberalen Lagers, die angesichts der fundamentalen Herausforderungen der Zeit in einem Spannungsfeld zwischen nationalem Revisionismus und internationaler Verständigung changierten. Sie ist auch eine maßgebliche Quelle für die Erforschung der Weimarer Republik als „Verfallszeit des deutschen Liberalismus“ (Dieter Langewiesche). Für den Jahrgang 1900/1901 liegen die Deutschen Stimmen gebunden in der Arbeitsstelle für Geschichte der Publizistik vor. Die Jahrgänge 1921 bis 1928 können auf Mikrofilmen eingesehen werden.
Diese Ausgabe des Publikationsorgans steht hier zum Download (als PDF) zur Verfügung.